- Frau in der religiösen Kultur des Mittelalters
- Frau in der religiösen Kultur des MittelaltersEs ist gut bekannt, dass in der katholischen Kirche Frauen in der Praxis nur eine dienende Rolle zukommt und sie aus allen Bereichen, in denen die Entscheidungen fallen, ausgeschlossen sind. Für das christliche Mittelalter, in dem es nicht die Alternative anderer, frauenfreundlicherer Konfessionen gab und das in jeder Hinsicht eine ausgesprochen machistische Epoche darstellt, galt dies in noch intensiverem Maß als heute. Im Unterschied zur Gegenwart wurde damals die intellektuelle und moralische Inferiorität der Frau auch theoretisch in der Theologie breitest untermauert. Die stereotyp wiederholten Hauptvorwürfe lauteten, die Ur- und Erbsünde sei Evas Schuld und sie, geschaffen aus des Mannes Rippe, verkörpere nur die triebhafte Seite des Menschen, wogegen der Mann mit der Vernunft gleichzusetzen sei. Nahm man dazu noch das Schweigegebot, das der Apostel Paulus diesem Geschlecht in der Versammlung auferlegt hatte, so war damit ein fast wasserdichter Ausschluss der Frauen aus dem religiösen Geistesleben der Zeit erreicht. Tatsächlich wurde ihnen nicht nur das Priesteramt, sondern auch die universitäre Bildung verwehrt.Dennoch gab es eine Möglichkeit für eine Frau, ihre Stimme in den religiösen Diskurs einzubringen: wenn es eben nicht ihre Stimme war, mit der sie sprach, sondern die Stimme Gottes selbst, dem sie nur als Sprachrohr diente. Darum sind fast alle Frauen, die die Geschichte der geistlichen Literatur des Mittelalters verzeichnet, Mystikerinnen. Dass sich nicht charismatisch begabte Frauen zu Wort meldeten, stellt so extreme Ausnahmen dar, dass sie für das Kulturbild der Zeit im Vergleich mit der hohen Zahl geistlicher Schriftsteller völlig insignifikant bleiben. Wenn im 10. Jahrhundert eine Hrotsvith von Gandersheim fromme Lesedramen in antiker Manier verfasste, im 12. Jahrhundert eine Frau Ava in Melk vom Leben Jesu und dem Antichrist dichtete oder eine Marie de France die Legende von der irischen Fegefeuerhöhle des heiligen Patrick ins Französische übertrug, so sind dies eben die notorischen Ausnahmen, die bloß die Regel bestätigen.Ganz anders erschien dagegen die Situation, wenn eine Frau sich auf unmittelbaren Kontakt mit der Gottheit berufen konnte, der sich noch dazu durch sichtbare Körperphänomene, speziell Ekstasen, ausdrückte. Dass in diesen »schwachen Gefäßen«, wie sie sich oft selbst nannten, Gott seine Stimme ertönen lasse, davon waren nicht nur sie überzeugt, sondern auch viele Prälaten - und das war das Entscheidende. Denn ohne »pressoure group«, sei es die des Ordens, dem sie angehörten, sei es die einer Verehrergemeinschaft, blieben nicht nur ihre Schriften unbekannt, sondern kamen diese Frauen auch oft unter den Verdacht, ihre Schauungen und Entrückungen könnten in Wirklichkeit vom bösen Geist eingegeben sein. Jeanne d'Arc war nicht die einzige, die ob der Engelserscheinungen, die sie zu sehen meinte, nach dem Urteil eines kirchlichen Gerichts in den Tod gehen musste.Zu ihren Zeiten - und heute - hochberühmt, nach ihrem Tod jedoch fast vergessen war die Benediktinerin Hildegard von Bingen (* 1098, ✝ 1179). Ihre Hauptwerke bezeichnet sie als Schilderungen des von ihr passiv Geschauten, nicht als eigene Entwürfe: In den kosmischen Visionen des »Scivias« deutet sie die Heilsgeschichte, im »Liber vitae meritorum« die Sittenlehre, in »De operatione Dei« die Geheimnisse der Natur. Dazu kommen (teilweise ebenfalls in Inspiration geschaffene) musikalisch bemerkenswerte Hymnen, Heiligenleben, eine Geheimsprache, Bibelauslegung und Naturkundliches (heute als »Hildegard Medizin« verfälscht und vermarktet).Sprach Hildegard noch ganz in der Art der alttestamentlichen Propheten, als schildere sie nur exakt die sich vor ihrem inneren Auge ausbreitende Bildwelt, so bringen die mystischen Schriftstellerinnen seit dem 13. Jahrhundert ihre eigene Gefühlswelt in faszinierender Intensität mit ein. Sie entstammen nicht nur einer anderen Generation, benutzen nicht nur die Volkssprache, sondern kommen zum Teil nicht mehr aus der monastischen oder höfischen Welt, vielmehr aus der religiösen Frauenbewegung der Städte. Diese Frömmigkeitsströmung führte zu einer neuen Sozialform, nämlich dem klosterähnlichen Zusammenleben von Frauen, die jedoch im Unterschied zu den Nonnen keine ewigen Gelübde ablegten, von der eigenen Handarbeit lebten und wieder in die Welt zurückkehren konnten. Beginen hießen diese Gläubigen, und zu ihnen zählen die beiden größten Dichterinnen des 13. Jahrhunderts, Hadewijch und Mechthild von Magdeburg. Auch ihre heutige Bekanntheit steht in krassem Widerspruch zur schmalen Verbreitung ihrer Werke im Mittelalter. Die Flämin Hadewijch dichtete ihre Lyrik, Briefe, Visionen von vorneherein esoterisch für einen kleinen Kreis Vertrauter, und Mechthilds »Fließendes Licht der Gottheit«, ein Buch, in dem sich Allegorie, Meditation, Gebet, Erfahrungsbericht, Poesie und Dialog mischen, erreichte ein noch kleineres Publikum.Unvergleichlich größere Wirkung erlangte in Italien und durch Übersetzungen darüber hinaus Katharina von Sienas (* um 1347, ✝ 1380) »Libro della divina Providenza«. Er enthält die Einsprachen des Herrn an die Seele der Mystikerin und lehrt, wie sie von der Gottesfurcht zur Gottesliebe über die Brücke gelangt, die der Herr Jesus bildet. Ihre etwa 380 Briefe - wohl die umfangreichste Sammlung von Frauenbriefen des Mittelalters - faszinieren durch ein mitreißendes Engament für persönliche Besserung und kirchenpolitische Aufgaben. Katharina ist ein Beispiel dafür, dass - im 14. Jahrhundert - selbst einer Frau aus bescheidenen sozialen Verhältnissen eine einflussreiche Position in Kirche und Welt und ein gewichtiger Platz im Fundus des geistlichen Schrifttums zukommen konnte, wenn sie sich überzeugend auf himmlische Offenbarungen zu berufen vermochte.Wir sollten uns aber immer dessen bewusst bleiben, dass wir nur die eine Seite der religiösen Frauenliteratur kennen, denn es gab auch als Ketzerinnen verfolgte Schriftstellerinnen, deren Spuren ganz oder weitgehend getilgt wurden. Der allegorische Dialog der 1310 verbrannten Begine Marguerite Porète zum Beispiel ist nur deshalb erhalten, weil er unter dem Namen orthodoxer Männer oder anonym vervielfältigt wurde. Die Erkenntnis, dass unser Bild von der Vergangenheit weitgehend das der Sieger ist, trifft für die Geschichte der Frauen in ganz besonderem Maß zu.Prof. Dr. Peter DinzelbacherKetsch, Peter: Frauen im Mittelalter. Quellen und Materialien. 2 Bände. Düsseldorf 1983—84.Southern, Richard W.: Kirche und Gesellschaft im Abendland des Mittelalters. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 1976.
Universal-Lexikon. 2012.